Kaum eine Epoche in der Geschichte der Buchmalerei hat so eindrucksvolle und prächtige Handschriften hervorgebracht wie das Zeitalter der Ottonen. Und hier sticht vor allem ein Skriptorium hervor, in dem die besten Buchmaler ihrer Zeit Codices von unvergänglicher Kunstfertigkeit und Schönheit geschaffen haben: das Skriptorium des Klosters Reichenau.
Eine der eindrucksvollsten und schönsten dieser Reichenauer Handschriften wird heute in der Herzog August-Bibliothek in Wolfenbüttel wie ein Staatsschatz gehütet – und das zu Recht. Denn das Reichenauer Perikopenbuch, vielleicht in Auftrag gegeben vom deutschen Kaiser Heinrich II. selbst, besticht durch die reiche Verwendung von Purpur und Gold. Ikonographisch und künstlerisch ist das Reichenauer Perikopenbuch mit seinen neun unvergleichlichen Miniaturseiten und sechs prachtvollen Initialzierseiten einzigartig in der gesamten deutschen Buchmalerei des Mittelalters.
Die Handschrift in Wolfenbüttel ist ein Evangelistar: Die 109 Lesungen (Perikopen) stammen ausschließlich aus den vier Evangelien und sind in der Lesefolge des Kirchenjahres angeordnet. Ausgewählte Hochfeste wurden mit insgesamt neun ganzseitigen Miniaturen illustriert, die durch ausgesprochen reiche Goldauflage und strahlende Farben bestechen. Dazu kommen noch sechs ganzseitige Initialzierseiten, deren große, ornamental gestaltete Initialen bestimmte Lesungen hervorheben und einleiten. Die unglaublichen Farben der Zierelemente, darunter viel kaiserlicher Purpur und feinste Goldranken, bezeugen den hohen Anspruch der Handschrift ebenso wie der großzügige Textspiegel und die zahlreichen goldenen Textinitialen.
Das Evangelistar in Wolfenbüttel entstand vor etwa 1000 Jahren im Skriptorium des Benediktinerklosters Reichenau. Im Zeitalter der Ottonen entstanden auf der Reichenau prachtvoll ausgestattete Handschriften für hochgestellte Auftraggeber und Empfänger wie Otto III., Heinrich II. oder den Trierer Erzbischof Egbert. Die erhaltenen Zeugnisse zählen zu den kostbarsten und eindrucksvollsten künstlerischen Äußerungen des frühen Mittelalters.
Die Miniaturen des Reichenauer Perikopenbuchs sind auf glänzenden Goldgründen in Deckfarben ausgeführt, die von ihrer ursprünglichen Strahlkraft nichts eingebüßt haben. Der Bilderzyklus beginnt mit einer Darstellung der Geburt Christi und der Hirtenverkündigung. Die Anbetung der Könige etwa verbindet eine übergroß dargestellte Maria mit dem Kind auf ihrem Schoß mit den herantretenden drei Weisen aus dem Morgenland, die ihre Gaben in erhobenen Händen präsentieren.
Eine einzigartige Kombination aus figürlichem Bild und Initiale findet sich zur Lesung am Karsamstag: Die berühmte Miniatur zeigt eine männliche Figur, die den Stamm einer großen I-Initiale emporklettert.
Selten dargestellt wurde die darauf folgende Befreiung Petri aus dem Kerker. Den Bilderzyklus der Handschrift beschließt eine Miniatur mit dem Tod und der Aufnahme der Gottesmutter Maria in den Himmel: Ein Bildthema, das erst wenige Jahre vor der Entstehung des Reichenauer Perikopenbuchs in der westlichen Kunst nachweisbar ist. Somit ist unser Codex ein einzigartiges Zeugnis phantastischer Schaffenskraft der Reichenauer Schule.
Auftraggeber und Bestimmungsort des Reichenauer Perikopenbuchs sind aufgrund fehlender Quellen nicht mit Sicherheit bestimmbar. Einen Hinweis gibt die Betonung des Festes des Todes und der Aufnahme Mariens in den Himmel: Das Bild zu diesem Fest (fol. 79v) wird an prominenter Stelle auf dem vorderen Buchdeckel im prachtvollen Elfenbeineinband übereinstimmend wiederholt.
Herzog August der Jüngere von Braunschweig-Lüneburg (1579–1666), ein berühmter Sammler des 17. Jahrhunderts und Begründer der heutigen Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, erwarb die Reichenauer Handschrift um 1658, vermutlich von einem unbekannten Sammler. Dieser hatte damals in größerer Zahl Handschriften aufbewahrt, die während der Besetzung Hildesheims im Zuge des Dreißigjährigen Kriegs entwendet worden waren. Mindestens sieben dieser Handschriften sind aus dem Hildesheimer Michaeliskloster herzuleiten, dessen Patronin Maria war. Somit spricht einiges dafür, dass das Reichenauer Perikopenbuch einst Hauptbestandteil des Hildesheimer Domschatzes war.
Vielleicht war es Teil der Krönungstagsstiftung Heinrichs II. (1002–1024), die dieser am 26. März 1013 anlässlich seines Besuchs beim Hildesheimer Domkapitel niederlegte.
Denn Hildesheim war zu Beginn dieses Jahres von einer Katastrophe betroffen: am 20. Januar 1013 vernichtete ein verheerender Brand vor allem den Archiv- und Buchbestand des Klosters. Das könnte dem späteren Kaiser den besonderen Anlass gegeben haben, mit seiner Güterstiftung auch ein Buchgeschenk zu verbinden. Auch die prachtvolle Ausstattung des Reichenauer Perikopenbuchs mit Gold und Purpur könnte ein Hinweis darauf sein.
Vom ursprünglichen Einband der Handschrift sind die Holzdeckel und ein byzantinisches Elfenbeinrelief erhalten geblieben. Es ist um 1000 entstanden und zeigt den Tod der Gottesmutter: Maria liegt auf dem Totenbett, umgeben von den Aposteln. Petrus schwenkt ein Weihrauchfass, Paulus umfasst in Trauer ihre Füße. Hinter dem Bett steht in monumentaler Größe Christus. In seinen Händen hält er die Seele Mariens, die als kleine, puppenartige Figur dargestellt ist. Fliegende Engel nehmen die Seele entgegen und tragen sie in den Himmel.
Die Faksimile-Ausgabe des Reichenauer Perikopenbuchs erscheint in der Reihe Codices Selecti als Band CXIV und gibt die Handschrift vollständig im Originalformat von 28 x 18,5 cm mit originalem Lagenverlauf sowie getreuem Randbeschnitt und bis ins kleinste Detail farbgetreu wieder.
Die im Original glänzenden Goldhintergründe, kaiserlicher Purpur und die strahlenden Farben werden in der Faksimile-Ausgabe originalgetreu wiedergegeben, ebenso die unzähligen Goldinitialen innerhalb des in karolingischer Minuskel geschriebenen Textes.
Der umfangreiche wissenschaftliche Kommentar wird von Dr. Thomas Labusiak erarbeitet und beleuchtet die Entstehung und Geschichte der Handschrift ebenso wie ihr historisches Umfeld und enthält eine detaillierte Beschreibung der Miniaturen und Initialzierseiten und der gesamten künstlerischen Ausstattung.