"Es geschah im Jahre 1141 nach der Menschwerdung des Sohnes Gottes Jesus Christus, als ich 42 Jahre und sieben Monate alt war; ein feuriges Licht mit stärkstem Leuchten, das aus dem offenen Himmel kam, durchströmte mein ganzes Gehirn und meine Brust und entflammte sie, ohne sie jedoch zu verbrennen; doch es war heiß, wie die Sonne das erwärmt, worauf sie ihre Strahlen wirft. Und plötzlich verstand ich die Bedeutung der Schriftauslegung, nämlich des Psalters, des Evangeliums und der anderen katholischen Bände des Alten und auch des Neuen Testaments."
Mit diesen Worten beschreibt Hildegard von Bingen im Vorwort zu ihrem Erstlingswerk „Liber Scivias“ das Ereignis, das die entscheidende Wende in ihrem Leben darstellte und sie aus der bisherigen Abgeschiedenheit immer mehr ins Licht der Öffentlichkeit führen sollte.
Zu jener Zeit lebt Hildegard bereits seit 35 Jahren als Klausnerin im Benediktinerkloster auf dem Disibodenberg. Nach dem Tod ihrer Erzieherin und Lehrerin Jutta von Sponheim ist sie selbst zur Meisterin des aus der Klause entstandenen kleinen Frauenklosters gewählt worden und führt ein zurückgezogenes Leben.
Göttliche Visionen sind für Hildegard nichts Neues. Seit ihrem dritten Lebensjahr verfügt sie über eine außerordentliche Wahrnehmungsgabe, die sie selbst als „visio“ bezeichnet. Sie empfängt ihre Eingebungen nicht im Traum, nicht im Schlaf oder in Geistesverwirrung, nicht durch die leiblichen Augen oder die äußeren menschlichen Ohren, auch nicht an abgelegenen Orten, sondern "ich erhielt sie in wachem Zustand, bei klarem Verstand, durch die Augen und Ohren des inneren Menschen, an zugänglichen Orten, wie Gott es wollte."
Doch diesmal erhält sie den göttlichen Auftrag, das, was ihr in Bildern und durch die himmlische Stimme verkündet werde, öffentlich mitzuteilen und schriftlich festzuhalten: "Sage und schreibe nieder, was du siehst und hörst."
Nach anfänglichen Selbstzweifeln und innerem Widerstand, der sie schwer erkranken lässt, fügt sich Hildegard dem göttlichen Ruf und beginnt mit der Niederschrift ihres ersten großen Visionswerkes „Liber Scivias“. Unterstützung findet sie dabei beim Disibodener Mönch Volmar, ihrem geistlichen Lehrer und Vertrauten, der die von Hildegard mit dem Griffel auf kleine Wachstafeln geschriebenen Texte auf Pergament überträgt.
Zehn Jahre – von 1141 bis 1151 – schreibt Hildegard am „Scivias“. Der Titel, eine Abkürzung von "Liber sci vias Domini" (Wisse die Wege des Herrn!), ist programmatisch. Der Weg ist das zentrale Motiv der Visionsschrift: Es ist der Weg, auf dem Gott den von ihm geschaffenen Menschen zu sich zurückführt.
Das Mittelalter sah die Weltgeschichte als Heilsgeschichte, an der jeder Mensch nach besten Kräften mitzuwirken die Pflicht hatte. Hildegard war dazu in besonderer Weise berufen. Nach einer kirchlichen Prüfung ihrer Sehergabe auf der Trierer Synode von 1147/48 ermutigt Papst Eugen III. Hildegard in einem Brief zur Fortsetzung ihres Werkes. Damit war der göttliche Ursprung ihrer visionären Begabung von allerhöchster Stelle anerkannt und autorisiert. Die päpstliche Legitimation befreit Hildegard von ihren Selbstzweifeln und erlaubt ihr, ihre göttlichen Eingebungen öffentlich kundzutun. Sie tritt aus der Abgeschiedenheit ihrer Zelle heraus, beginnt einen regen Briefwechsel mit den Mächtigen in Staat und Kirche (mehr als 300, oft äußerst kritische und mahnende Briefe sind überliefert), sie nimmt lebhaft Anteil am politischen und gesellschaftlichen Geschehen und mit ihrer charismatischen Persönlichkeit und ihrer auf die Stimme Gottes gegründeten Autorität wird sie allmählich zur moralischen Instanz einer ganzen Epoche.
1150 gründet Hildegard auf dem Rupertsberg bei Bingen ein eigenes Kloster. Hier vollendet sie nicht nur den „Scivias“, sondern verfasst mit dem „Liber vitae meritorum“ und dem „Liber divinorum operum“ zwei weitere große prophetische Werke sowie unzählige naturkundlich medizinische Abhandlungen und Schriften zur Musik.
Der „Scivias“ ist das erste theologisch-kosmologische Werk Hildegards. Auf der Grundlage des mittelalterlichen Weltbildes von der untrennbaren Einheit zwischen Universum (Makrokosmos) und Mensch (Mikrokosmos) zeigt Hildegard den heilsgeschichtlichen Weg von der Schöpfung der Welt und des Menschen über die Erlösung durch Christus und seine Kirche bis hin zur Vollendung am Ende der Zeiten auf. In den 26 mächtigen Bildvisionen von hoher Präsenz und mit elementarer Sprachgewalt bildet die Beziehung des Menschen zu Gott, seine Abkehr und Hinwendung zu seinem Schöpfer das zentrale, immer wieder neu variierte Thema. Am Beginn jedes Abschnittes steht eine „Vision“, ein geschautes Bild, mit ungewöhnlichen Motivkombinationen und einer starker Farbsymbolik. In ihm wird durch sichtbare Formen das Unsichtbare veranschaulicht. Dieses äußerst komplexe Bild bedarf einer Interpretation, die in der „Audition“ gegeben wird. Es ist die Stimme Gottes, die den kosmischen und geistig- religiösen Gehalt des Visionsbildes deutet. Die Auslegung in der Audition offenbart die religiösen Quellen, aus denen Hildegard schöpfte: die Bibel, die Schriften der Kirchenväter, die Liturgie und die Regel des heiligen Benedikt. Ergänzend treten predigtartige Aussagen zu praktischen Lebensfragen wie Ehe, Schwangerschaft, Jungfräulichkeit u.a. hinzu.
Bereits im „Scivias“, ihrem ersten Visionswerk, entwickelte Hildegard von Bingen ihre philosophisch-theologische Glaubenslehre, in der Weltbild und Menschenbild untrennbar mit dem Gottesbild verbunden sind. Diese Gesamtschau sämtlicher Bereiche der Schöpfung findet sich auch in all ihren späteren Schriften.
Der „Scivias“ ist in 10 vollständigen Handschriften und zahlreichen Exzerpt-Überlieferungen erhalten. Darunter findet sich nur eine einzige Prachthandschrift: Der Rupertsberger Kodex, entstanden vermutlich um 1175, noch zu Lebzeiten Hildegards. Bedingt durch Hildegards Visionen – die sie in dreidimensionaler Räumlichkeit wahrnimmt – zeigen die 35 Miniaturen ein einzigartiges, in sich geschlossenes Symbolrepertoire: christlich-theologische Allegorien, ungewöhnliche Darstellungen von Menschen und fantastischen Wesen werden geschaffen. Durch die gezielt durchdachte Verwendung von Gold und eine intensive Sprache der Farben in den Miniaturen entsteht ein unvergleichliches Spektrum. Diese Prachthandschrift ist wohl eines der eigenwilligsten Meisterwerke der mittelalterlichen Buchmalerei.
Bis 1632 befand sich der Kodex in dem von Hildegard gegründeten Kloster auf dem Rupertsberg. Nach dessen Zerstörung wurde er in das Kloster Eibingen gebracht. Im Zuge der Säkularisierung gelangte die Handschrift schließlich in die Naussauische (heute Hessische) Landesbibliothek in Wiesbaden.
In den Jahren 1927–33 wurde in Eibingen eine bis ins Detail getreue Abschrift des Originals auf Pergament angefertigt. Dieser Nachbildung kommt heute besondere Bedeutung zu, da die Originalhandschrift in den Wirren des 2. Weltkrieges verloren ging und bis heute verschollen ist. Die akribische, in mittelalterlicher Manier ausgeführte Kopistenarbeit der Benediktinerinnen von Eibingen hat der Nachwelt eine der interessantesten und wirkmächtigsten Handschriften des 12. Jahrhunderts und mit ihr auch eine authentische Vorstellung von der grandiosen Geistes- und Bildwelt der Hildegard von Bingen gerettet.