Erhältlich als Band 8 der Reihe Glanzlichter der Buchkunst
Eine der wertvollsten illuminierten Handschriften der Spätantike ist ein in Konstantinopel entstandenes Pflanzenbuch aus dem 6. Jh., das nach seinem heutigen Aufbewahrungsort “Wiener Dioskurides” genannt wird. Dieser Codex beinhaltet Beschreibungen von zahlreichen Heilpflanzen, die zum größten Teil auch bildlich dargestellt sind und als Vollminiaturen jeweils eine ganze Seite bedecken. Ebenso wie die faszinierenden Darstellungen von Menschen und Tieren, geben sie ein Zeugnis von der hohen Kunst der Buchmalerei im Byzantinischen Reich.
In der Textüberlieferung – einem Herbarium des griechischen Arztes DIOSKURIDES PEDANIOS (1. Jh. n. Chr.) mit Einschüben aus Schriften anderer Autoren und einigen ebenfalls sehr bedeutenden Anhängen – bildet der Wiener Dioskurides ein nahezu unerschöpfliches Quellenwerk für die Geschichte der antiken Naturwissenschaften und der frühbyzantinischen Kultur.
Der Codex hatte eine jahrhundertelange Nachwirkung; ist er doch zum "Ahnherrn" zahlreicher Pflanzen- und Kräuterbücher des Mittelalters und noch der beginnenden Neuzeit geworden. Er selbst trägt die Spuren jahrhundertelanger Benutzung durch griechische, lateinische, türkische, orientalische und jüdische Ärzte und belegt so die lange Wertschätzung antiker Pharmakologie. Selbst in der modernen Zeit, in der ein neues Interesse an den Kräften von Heilpflanzen erwacht ist, wird dem Wiener Dioskurides noch große Aufmerksamkeit geschenkt. Wegen seines hohen kulturhistorischen Wertes, wurde der Codex im Jahre 1998 von der UNESCO in das Weltkulturerbe der Menschheit aufgenommen.
Die Datierung der Handschrift um 512 n. Chr. und ebenso die Lokalisierung in ein Atelier in Konstantinopel, lässt sich durch das Widmungsbild zu Beginn der Handschrift bestimmen. Auf ihm ist die byzantinische Prinzessin Juliana Anikia dargestellt, die im Stadtteil Honoratae von Konstantinopel eine Kirche gestiftet hatte und zum Dank dafür von den Bürgern den kostbaren Codex gewidmet erhielt.
Der größte Teil der Handschrift wird von einer alphabetisch angeordneten Fassung des Pflanzenbuches des Arztes und Botanikers Dioskurides Pedanios eingenommen. 383 Heilpflanzen werden in griechischer Majuskelschrift, die in der Forschung als Bibelmajuskel bezeichnet wird, beschrieben. Oftmals finden wir daneben auch Umschriften in die neu entwickelte Minuskelschrift, da die alte Majuskelschrift mit der Zeit zusehends schwerer lesbar wurde.
In einem didaktisch äußerst guten Aufbau ist dem erklärenden Text die bildliche Darstellung der Pflanzen gegenübergestellt. Diese Darstellungen füllen zumeist die ganze Seite aus und sind in Deckfarbenmalerei ausgeführt. Zusammen mit den 66 Bildern giftiger Tiere und den 47 Vogeldarstellungen, sind sie als treffliche Kopien späthellenistisch-römischer Vorlagen von unschätzbarem Wert, da entsprechende antike Originale verloren sind.
Auf das den größten Teil der Handschrift einnehmende Herbarium folgen einige Annexe, darunter ein anonymes Gedicht über die Kräfte der den Göttern geweihten Pflanzen (Carmen de viribus herbarum) und vier Paraphrasen zu naturkundlichen Werken der Antike: die Paraphrase des Euteknios zu den “Theriaka” des Nikandros von Kolophon mit Darstellungen von Pflanzen und wilden Tieren (Schlangen, Skorpionen, Spinnen), die Paraphrase desselben Autors zu den “Alexipharmaka” des Nikandros, eine anonyme Paraphrase der “Halieutika” des Oppianos und eine anonyme Paraphrase der “Ornithiaka” des Dionysios von Philadelphia mit zahlreichen Vogeldarstellungen, die für die Entwicklung der zoologischen Illustration von großer Bedeutung sind. Einige kleine Fragmente eines Menaion, einer liturgischen Handschrift mit Lebensbeschreibungen von Heiligen, stellen einen inhaltlichen Fremdkörper dar und bilden den Abschluss der Handschrift.
Von der großen Wertschätzung und der jahrhundertelangen Benützung der Handschrift zeugen die zahlreichen Eintragungen und Beischriften von späteren Händen in griechischer, lateinischer, jüdischer, persischer, türkischer und arabischer Sprache. Denn diese Sammelhandschrift vereinte unter Heranziehung unterschiedlichster Quellen die gesamten Ergebnisse der griechischen Forschungen auf dem Gebiet der Pharmazie und angewandten Botanik. So blieb der Wiener Dioskurides viele Jahrhunderte uneingeschränkte Autorität für alle medizinisch-pharmazeutischen Belange.
Ein wissenschaftlicher Kommentar, der von Hans Gerstinger verfasst wurde, führt in die Handschrift und ihr Umfeld ein.