Im Jahr 1546 wurde in Rom ein Stundenbuch fertiggestellt, das seinen Zeitgenossen als eine der größten Sehenswürdigkeiten des an Kunstwerken aller Epochen so reichen Rom galt und das eine der berühmtesten illuminierten Handschriften der Welt werden sollte. Seine außerordentliche Bedeutung verdankt dieses Stundenbuch dem Umfeld seiner Entstehung und der hohen künstlerischen Qualität seiner Ausführung. Der Auftraggeber war niemand Geringerer als Kardinal Alessandro Farnese (1520–1589), Spross einer der einflussreichsten Dynastien Italiens, in direkter Linie von Papst Paul III. abstammend und Verwalter der unermesslich wertvollen Kunstsammlungen der Familie.
Der erlesene Geschmack und der hohe Anspruch Alessandros spiegeln sich auch in seinem Gebetbuch wider, mit dessen Ausstattung er Giulio Clovio (1498–1578), den begabtesten Miniaturisten des Cinquecento, betraute. Mit diesem Stundenbuch schuf Clovio sein Meisterwerk. In zahllosen Studien und Skizzen nach berühmten Vorbildern aus der Monumentalmalerei und -plastik hatte sich der in Kroatien geborene, bereits in jungen Jahren nach Rom gekommene Künstler mit der Geistes- und Formenwelt der Renaissance vertraut gemacht und sich in der perfekten technischen Umsetzung geübt. Dabei erreichte er in seinen stets auf das Kleinformat beschränkt bleibenden Werken einen Grad an Kunstfertigkeit, der ihm bei einer enthusiastischen Kunstkritik die Beinamen „neuer Michelangelo“ und „Raffael der Miniaturenmaler“ eintrug.
Clovios Bilder sind bis ins Detail durchkomponierte Gemälde en miniature. Stilistisch umspannen sie das gesamte Spektrum, das einem Künstler der Spätrenaissance bei der Umsetzung seiner Bildideen zur Verfügung stand: reduzierte, vornehme Architekturen wechseln mit üppigen, vollplastischen und figürlich belebten Rahmungen; zartgliedrige, filigrane Aufbauten, wie sie von Raffael aus der antiken römischen Wandmalerei übernommen und mit grotesken Masken und Mischwesen versehen worden waren, finden sich neben illusionistischen, weit in die Tiefe führenden Landschaften und naturalistisch ausgeführten Stilleben, die Meisterwerke flämischer Buchmalerei in Erinnerung rufen. Das szenische Geschehen selbst wird von dramatisch bewegten Figuren, deren Körperlichkeit an Michelangelos Protagonisten gemahnt und die durch starke gestische und mimische Interaktionen miteinander verbunden sind, bestimmt. In diesem virtuos vorgetragenen Stilpluralismus ist das Farnese-Stundenbuch mit keiner anderen Handschrift zu vergleichen.
Auch in der Auswahl der Texte weicht das Farnese-Stundenbuch von den Konventionen ab. Von den für eine Handschrift dieses Typus gleichsam kanonischen Textteilen fehlen das Kalendarium, die Sequenzen der Evangelien und die Fürbitten. Den Stundengebeten zur Jungfrau Maria, dem Marienoffizium, den Bußpsalmen, der Heiligenlitanei, dem Totenoffizium und den Stundengebeten zum Heiligen Kreuz und zum Heiligen Geist ist hingegen zusätzlich das selten vertretene Athanasianische Glaubensbekenntnis beigefügt.
Als bildliche Einleitung zu den größeren Textabschnitten dienen die insgesamt 26 ganzseitigen, jeweils paarweise auf einander gegenüberliegenden Seiten angeordneten Miniaturen. In diesen 13 typologisch zusammengestellten Bildpaaren offenbart sich die ganze Meisterschaft Clovios. Gefasst von prächtigen Rahmen, bei deren Gestaltung der Maler nahezu verschwenderisch auf das unerschöpfliche Formenrepertoire der Renaissance und des Manierismus zurückgreift, gelangen in den Zentralbildern die bedeutendsten Episoden aus dem Alten und Neuen Testament zur Darstellung. Die perfekte Pinselführung und intensive Farbgebung, effektvolle Lichtakzente und der äußerst präzise Goldauftrag, erhöhen die Dramatik dieser auf äußere und innere Bewegung angelegten Kompositionen.
Höchstes künstlerisches Niveau zeichnet auch den aufwendigen, mit atmosphärischen Landschaften, naturgetreuen Stilleben, eindrucksvollen zeitgenössischen Portraits und feinsten Grotesken gestalteten Randschmuck aus, der weitere 34 Seiten der Handschrift rahmt. Diese überragende Qualität, seine immense Formenvielfalt und die originellen ikonographischen Lösungen, sichern dem Farnese-Stundenbuch einen bleibenden Platz unter den großen Handschriften der Welt.
Wie groß die Wertschätzung war, die Alessandro Farnese Clovios Werk entgegenbrachte, geht aus seinem Testament hervor, in dem er für diese Handschrift – im Unterschied zu den anderen hochberühmten Kunstwerken aus seinen Sammlungen – eine eigene Verfügung erließ, nach der das Stundenbuch für alle Zeiten in Rom bleiben sollte. Dieser Wunsch ging jedoch nicht in Erfüllung.
Nach Alessandros Tod gelangte die Handschrift in den Besitz seines Großneffen Kardinal Odoardo Farnese, der eine schwere, reich verzierte Einbanddecke in Gold und Silber herstellen ließ, um das weich gebundene Buch zu schützen und gleichzeitig seinen Wert als Kunstwerk noch zu erhöhen. Im frühen 18. Jh. verließ das Farnese-Stundenbuch erstmals Rom und kam nach Parma. Nach dem Erlöschen der Farnese-Linie im Jahre 1731 gelangte sie mit Karl v. Bourbon nach Neapel. Über Rom kam die Handschrift dann um die Mitte des 19. Jh.s nach Wien, wo sie im Jahre 1903 John Pierpont Morgan jr. aus dem Besitz von Erzherzog Rainer v. Österreich für seine Bibliothek erwerben konnte. Seit damals wird das Farnese-Stundenbuch in der Pierpont Morgan Library in New York verwahrt.