Zu den interessantesten Dokumenten der Begegnung von Orient und Okzident gehören die Kostüm- oder Trachtenbücher, Bilderalben, in denen in künstlerisch wertvoller Ausstattung die Bekleidungssitten einzelner Völker und Gemeinschaften zur Darstellung gelangen. Die überwiegende Zahl der Handschriften dieses Typus widmet sich der Präsentation von Trachten des Osmanischen Reiches. Zum einen wurden diese wegen ihrer Farbenpracht besonders bewundert, zum anderen hatte die im 16. Jh. das politische Leben des Abendlandes beherrschende „Türkengefahr“ in den Europäern das Interesse am Fremdartigen und Exotischen gerade dieser Region geweckt.
Unter den erhaltenen Kostümbüchern nimmt das Exemplar in der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen (Ms. or. 9) eine besondere Stellung ein. Neben dem ungewöhnlich großen Format und der Fülle sowie der Qualität der Bilder, liegt diese auch darin begründet, dass eine Eintragung im Werk selbst über die Entstehungszeit, den ausführenden Künstler und den Auftraggeber Auskunft erteilt. Laut dieser wurde das Bremer Kostümbuch im Jahre 1574 vom Maler des kaiserlich-habsburgischen Botschafters Karel Rijm, Lambert de Vos (der aus Mechelen stammte), in Konstantinopel gemalt.
Das reiche Album besticht durch die hohe künstlerische Qualität, die sich nicht mit einer einfachen Dokumentation des Gesehenen begnügt. Jedes der insgesamt 103, die großformatigen Buchseiten füllenden aquarellierten Bilder, stellt eine durchgearbeitete Komposition dar. Thema und formale Vorgabe des Kostümbuches ist eine „pompa“ – der nach einer streng festgelegten hierarchischen Ordnung ablaufende zeremonielle Ausritt des Sultans, wie er gerade unter Süleyman dem Prächtigen zu einer Manifestation von Glanz und Glorie des Osmanischen Reiches hochstilisiert wurde.
Im Gefolge des Herrschers finden wir – nach ihrem gesellschaftlichen Rang gereiht – geistliche und weltliche Würdenträger, Männer und Frauen aus dem Bürgertum, Unterschichtsangehörige und Provinzbewohner. Tartaren, Mönche, Janitscharen, Derwische und griechisch-orthodoxe Christen fehlen ebensowenig wie Mägde, Frauen im Bade oder Angehörige verschiedener Volksgruppen, die in Istanbul ansässig waren, darunter Araber, Juden, Bulgaren, Armenier und Griechen. Ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe oder Gemeinschaft sowie ihre gesellschaftliche Stellung, ist im Wesentlichen durch eine große Vielfalt von Varianten in der Kleidung kenntlich gemacht, wobei die Farbe als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal eingesetzt wird. Zusätzliche lateinische Bildbeischriften schließen Verwechslungen aus.
Insgesamt vermittelt uns das überaus farbenprächtige Kostümbuch des Lambert de Vos nicht nur einen Einblick in Tracht und Mode im Osmanischen Reich des 16. Jh.s, sondern auch in die hierarchischen Strukturen eines Gemeinwesens und einer Gesellschaft, die das christliche Abendland viel stärker beeinflusst hat, als dies von der Geschichtsschreibung bisher berücksichtigt worden ist.