Obwohl das Manuskript I 189 in der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover hinsichtlich des Umfanges (80 Seiten) und des Formates (150 x 206 mm) zu den kleinen Codices gehört, stellt es doch ein einzigartiges Zeugnis der frühmittelalterlichen Buchkunst dar. In ihm begegnen wir zum ersten Mal dem Typus des „libellus“, eines „kleinen Buches“, das dem Leben eines, in diesem Ausnahmefall zweier Heiliger gewidmet ist. Die Anfertigung solcher Handschriften einer Heiligenvita steht in engem Zusammenhang mit dem Reliquienkult, der im 10. Jh. einen Höhepunkt erlebte und nicht nur auf Kirche und Kunst, sondern auch auf Politik und Wirtschaft Einfluss nahm. Jede Kirche musste eine Reliquie besitzen. Zusätzlich wollte man aber auch Näheres über das Leben der Heiligen erfahren, von denen man die Asche, Gebeine oder persönlichen Gegenstände bewahrte. So entstanden Handschriften mit den legendenhaft ausgestalteten Biographien der Verehrten. Die Schlußgebete zeugen davon, dass den Codices die gleiche Kraft wie den Reliquien selbst zugemessen wurde.
Es sind zwei Heilige, deren Leben und Sterben in der Handschrift in Hannover in einer exakt ausgeführten karolingischen Minuskelschrift erzählt und durch zahlreiche Miniaturen illustriert wird.
Der hl. Kilian, ein irischer Bischof, hatte mit seinen Gefährten das Frankenreich missioniert. Um 680 wirkte er in Würzburg, wo er die Herrschenden mit der Sittenlehre und dem Kirchenrecht konfrontierte und damit sein Martyrium besiegelte.
Auch die hl. Margarete starb den Märtyrertod. Sie gehört zu den im Morgen- wie im Abendland am meisten verehrten Heiligen. Der Legende nach stammte sie aus Antiochia und lebte zur Zeit der größten Christenverfolgung, unter dem römischen Kaiser Diokletian (Anfang 4. Jh.). Nach ihrer Weigerung, ihrem Glauben abzuschwören, wurde sie gefoltert und schließlich enthauptet.
Sowohl die Kilians-Vita als auch die der Margarete werden an den wichtigsten Stationen von anschaulich erzählenden Miniaturen begleitet. Die flächige Auffassung, die starke Konturierung und die ausdrucksvolle Gebärdensprache weisen die Figuren in die Tradition der spätantiken Bildformulare. Zwei prächtig ausgestaltete Initialseiten stehen am Beginn der Viten. Ein breites, goldenes, eng geschlungenes Flechtband bildet die Rahmen der Anfangsworte der Passionen. In gleicher Weise gerahmt erscheint das Titelblatt zur Vita Sanctae Margaretae. Im zweigeteilten Bildfeld wird im oberen Bereich die Krönung der hl. Margarete, im unteren Teil ein Schreiber bei seiner Arbeit dargestellt.
Die Gesamtausstattung ist so qualitätvoll und aufwendig, dass der Codex im Auftrag des ottonischen Königshofes – möglicherweise sogar für den berühmten Essener Münsterschatz – angefertigt worden sein dürfte. Als Entstehungsort wird mit Fulda eines der führenden Skriptorien jener Zeit genannt. Dort hatte man in Stil und Ornamentik die spätkarolingischen Formen weitergeführt und ab 972 (Eheschließung Ottos II. mit Theophanu) in der Verbindung mit Elementen der mittelbyzantinischen Renaissance den Höhepunkt der Leistungen erreicht. In dieser Periode entstand um 975 die „Passio Kiliani et Margaretae“, eines der eindruckvollsten Zeugnisse der ottonischen Buchkunst.