Erhältlich als Band 5 der Reihe Glanzlichter der Buchkunst
Das Reichenauer Evangelistar ist vor über 900 Jahren vermutlich im Skriptorium des Klosters Reichenau, der damals bedeutendsten abendländischen Malschule, entstanden und gilt heute als Schlüsselwerk für die Beurteilung der Reichenauer Buchmalerei.
Auf den 182 Seiten (91 Folios) dieses Evangelistars werden dem Leser die zentralen Abschnitte der Heilsgeschichte dargeboten. Die teils ganzseitigen, teils streifenartig in den Text eingefügten Miniaturen, deren Strahlkraft durch die reiche Verwendung von Gold erhöht wird, stehen noch ganz in der Tradition der ottonischen Kunst.
Es sind vor allem diese Miniaturen, die mit ihrem für die Reichenauer Schule so charakteristischen, eigentümlich spröden Reiz den Betrachter in ihren Bann ziehen. Zur straffen Ordnung der Bildanlagen – einem Erbe der ottonischen Kunst – tritt unvermutet ein das romanische Kunstwollen vorwegnehmender expressiver Figurenstil, der jede statuarische Steifheit überwindet. Weit ausholende Gesten tragen einen starken Bewegungsimpuls ins Bild; die Steigerung des mimischen Ausdrucks führt zu einer Emotionalisierung und Verlebendigung des biblischen Geschehens.
Mit dem unmittelbaren Nebeneinander von Elementen verschiedener Stilstufen erweist sich das Reichenauer Evangelistar als ein typisches Produkt einer Übergangszeit, in dem Tradition und Neubeginn ihre deutlichen Spuren hinterlassen und zu einer einmaligen, in dieser Kombination unwiederholbaren Synthese zusammengefunden haben.
Der Text des Reichenauer Evangelistars ist in karolingischen Minuskeln abgefasst und mit zahlreichen prunkvollen Initialen ausgestattet. Er beginnt mit einer der vier Vorreden zum Evangelienbuch, nämlich mit der dritten Vorrede des Hieronymus. Anschließend folgen die vier den einzelnen Evangelien vorangestellten Prologe. Die Perikopen setzen mit der Lesung "In vigilia nativitate domini" ein, gefolgt von den Lesungen des Kirchenjahres von Weihnachten über Ostern bis zum 26. Sonntag nach Pfingsten; anschließend die vier Adventsonntage, die Heiligenfeste und Votivmessen.
Bezeichnend für den Gesamtcharakter der Handschrift ist es, dass sie unvollendet blieb. Denn es fehlen einige Bilder, und auch die Miniatur der Geburt Johannes des Täufers blieb unvollendet. Dies ist um so überraschender, als es sich um eine Gabe an höchste Stelle handelt, wie aus dem Widmungsbild zu schließen ist.
Das Dedikationsbild zeigt einen bekrönten Herrscher, der in seiner Linken einen mit einem Adler besetzten Reichsapfel hält. Links von ihm reicht ihm ein Mönch ein Buch dar, das zweifellos mit dem Reichenauer Evangelistar zu identifizieren ist.
Welcher Herrscher im Widmungsbild dargestellt wird, ist nicht gänzlich geklärt. Neben Heinrich IV. wurde immer wieder Heinrich III. als Adressat der Handschrift genannt. Vielleicht lassen sich auch der Herrscher auf der einen Seite und die Nichtvollendung der Handschrift auf der anderen Seite in einen historischen Zusammenhang bringen: Die Handschrift blieb unvollendet, da der Anlass ihrer Schenkung entfallen war.
Trotz einiger offener Fragen erweist sich diese Handschrift als ein charakteristisches Beispiel einer Phase des Übergangs. Die stark bewegte und lebendige Gestaltung des biblischen Geschehens wandelt den ottonischen Formenkanon ab. Imperiale Traditionen verbinden sich mit einem Bemühen um die Reinheit in Schrift und Liturgie.
Der wissenschaftliche Kommentar wurde von Peter Bloch verfasst und enthält eine kodikologische und kunsthistorische Einführung in das Reichenauer Evangelistar.